Können Sie sich vorstellen, freiwillig in ein psychiatrisches Krankenhaus zu gehen und einige Stunden später zwangseingewiesen, isoliert und gefesselt zu werden? So geschehen bei Lieve, der Tochter von Willy Vandamme (76) und Lut Wouters (70). Die junge Frau weigerte sich, einer Krankenschwester ihr Handy auszuhändigen. Zehn Tage später musste sie im Schlafanzug und barfuß vor dem Friedensrichter erscheinen, wo die Zwangsmaßnahme prompt verlängert wurde. Es dauerte Tage, bis Willy und Lut erfuhren, dass ihre Tochter in einem kalten Zimmer gefesselt war. Sie durften sie nicht sehen. Nicht einmal telefonieren durften sie mit ihr.
Die Fakten stammen aus dem Jahr 2013. Ein Jahr später nimmt sich Lieve, 28 Jahre alt, das Leben. „Das erste Mal, dass sie zu einem Psychiater ging, war acht Jahre zuvor“, sagt Lut. „Unsere Tochter war jemand, dem es schwerfiel, ihren Platz in der Welt zu finden. Als sie sich plötzlich verwirrt fühlte, gingen wir mit ihr zum Arzt. Das war der Beginn unserer Qualen in der Psychiatrie.“ Der Psychiater kann nicht sagen, was genau an diesem Tag los ist. Er verschreibt ihr starke Antipsychotika und schickt sie nach Hause. Kurze Zeit später häufen sich die Einweisungen und neuen Tablettenverschreibungen. Die Medikamente haben eine enorme Wirkung auf Lieve. Sie fühlt sich schläfrig, entwickelt körperliche Beschwerden und unternimmt wenig später ihren ersten Selbstmordversuch. „Ich fühle mich nicht mehr wie ein Mensch“, sagte sie uns. Aber als sie den Arzt darauf ansprach, wurde ihr gesagt, dass sie für den Rest ihres Lebens schwere Medikamente nehmen müsse“, sagt Willy. „Als wir die Krankenschwestern fragten, ob sie ihre Dosis überprüfen könnten, wurde sie plötzlich erhöht. Es gab absolut keine Beteiligung der Eltern oder Freunde“. Die Aufsicht des Gesundheitswesens betrachtet jedoch die Einbeziehung des Patienten oder der Familie als ein wichtiges Thema….
Nach Lieves Tod gründeten Lut und Willy Re-Member, eine gemeinnützige Organisation, die Familien helfen will, die das Gleiche durchmachen. Die Idee für Re-Member entstand im Kopf ihrer Tochter. Sie fand, dass es eine Organisation geben sollte, die Menschen in der Psychiatrie eine Stimme gibt. Ihre Eltern versuchen nun, dies in die Tat umzusetzen. Willy und Lut setzen sich mit allen Beteiligten an einen Tisch, hören sich die Sorgen und Ängste der Betroffenen an und versuchen, gemeinsam mit den Angehörigen Lösungen zu finden. «Open-Heart-Circles» nennen sie das. Ein Ort, an dem die Betroffenen ihre Ängste und Zweifel mit ihren Angehörigen teilen können, ohne verurteilt zu werden. Ein Ort, an dem sie zugeben dürfen, dass sie an Selbstmord denken, ohne eingesperrt zu werden. Seit Jahren nehmen sie alle Familien in Not in ihrem Haus auf und bringen sie dazu, sich gegenseitig ihre Ängste und Hoffnungen anzuhören, indem sie alle Beteiligten einladen, die Sprache der Verbundenheit und der Liebe zu sprechen. Zweifellos haben sie viele Leben gerettet. Manchmal gewinnen Selbstmordgedanken den Kampf. In diesen Fällen helfen sie den Eltern, warme, nicht verurteilende Gedanken für sich selbst oder für ihr verstorbenes Kind zu entwickeln.
In all den Jahren haben sie nie einen Pfennig dafür verlangt.
Fünf Jahre und fast 300 Open-Heart-Circles später kann die Organisation stolz darauf sein, dass sie den Weg zu einer großen Zahl von Familien gefunden hat und Kindern und Jugendlichen mit existenziellen Zweifeln eine Stimme gibt. Viele Pädagogen, Psychologen und sogar Psychiater im ganzen Land tun jetzt, was Lut und Willy getan haben: Sie organisieren Open-Heart-Circles. Die flämische Regierung unterstützt die Kreise in fast allen Provinzen und bezahlt sie. Eine Untersuchung des belgischen Nationalen Instituts für Kriminologie NICC zeigt, dass die Kreise für mindestens 60 % der beteiligten Familien sehr hilfreich sind. All dies ist das Verdienst von zwei Personen: Lut Wouters und Willy Vandamme.
Ich, Dimi Dumortier, der 2019 selbst die Ehre einer Giraffe Hero Nominierung erhielt, wurde im selben Jahr von diesen beiden wunderbaren Menschen zur Leitung von Open-Heart-Circles ausgebildet. Seitdem habe ich Dutzende dieser Kreise geleitet und kann ihren außerordentlichen menschlichen Wert bestätigen. Ich glaube, dass Lut und Willy den Titel „Giraffe Heroes“ wirklich verdient haben.
DD
16. Juni 2021